Rourke und Ty

Bonus für Jungfrau an Bord

Rourke

Jack hatte nicht viel Überredungskünste gebraucht, um mich davon zu überzeugen, zu seinem Quizabend zu kommen. Teo und er hatten sich vor kurzem ein neues Haus gekauft und ich nehme an, sie wollten den Jahreswechsel aus diesem Grund einfach zu Hause feiern. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Auch ich hatte genug von Neujahrspartys in Penthäusern, auf denen man im Anzug Champagner schlürfte, und freute mich darauf, den Abend in gemütlicher Kleidung mit Freunden zu verbringen, in deren Gegenwart ich einfach ich selbst sein konnte.

Um ehrlich zu sein, war ich erschöpft. Im vergangenen Jahr hatte ich beinahe hundert Städte bereist, hatte Reden vor unterschiedlichen Menschen gehalten und meine Bücher signiert. Wenn ich gefragt wurde, weshalb ich zuließ, dass mein Manager mich derart auf Trab hielt, lächelte ich jedes Mal und erzählte die PR-taugliche Version meiner Wahrheit: Ich liebte es, anderen meine Geschichte zu erzählen, besonders Kindern und Teenagern.

Die ganze Wahrheit kannte allerdings nur mein Therapeut. Ich war verdammt einsam und hatte panische Angst davor, den Rest meines Lebens allein zu verbringen. Samar hatte mich davor gewarnt, dass diese Einstellung dazu führen könnte, mich wie ein Arschloch zu verhalten (meine Worte, nicht seine), denn die Menschen wegzustoßen war einfacher als die Vorstellung, dass niemand mit mir zusammen sein wollte. Und er hatte recht.

Nicht, dass mich das davon abhielt, ein Arschloch zu sein.

„Sie gehen doch nicht etwa so aus, oder?“, fragte mein Haushälter mit hochgezogener Augenbraue, als ich in die Küche ging, um den Champagner aus dem Kühlschrank zu holen. Peter mischte sich in alles ein, doch ich war mir nicht sicher, ob ich ohne ihn leben könnte. Was ich ganz sicher wusste, war, dass ich nicht ohne ihn leben wollte. Wenn es einen Vorteil hatte, so viel Geld zu haben, dann die Tatsache, dass ich den Einkauf nicht selbst in einem verdammten Rollstuhl erledigen musste. Peter kümmerte sich um alle nervigen Dinge in meinem Leben: Er machte die Wäsche, packte meine Koffer ein und aus, wenn ich reiste, holte Gegenstände von den oberen Regalen und sorgte generell dafür, dass mein hektischer Alltag reibungsloser verlief, indem er meine Wünsche vorausahnte.

Und offenbar hatte er den Eindruck, dass er auch für die Wahl meiner Kleidung zuständig war.

„Heute Abend ist der Dresscode casual“, erinnerte ich ihn.

„Casual wie in ‚Pyjama‘?“

Ich sah an meinen weichen, ausgebleichten Jeans hinunter, die ich mit einer marineblauen Patagonia-Fleeceweste kombiniert hatte. Die Weste war brandneu. „Ich sehe gut aus.“ Ich hielt inne. „Oder nicht?“ Doch ich wartete seine Antwort nicht ab. „Was zur Hölle? Es ist mir völlig egal, was Sie denken. Ich muss niemanden beeindrucken. Es ist ein Quizabend, verdammt. Immerhin trage ich nicht die Sporthosen und den Kapuzenpullover, die ich vorhin anhatte. Außerdem habe ich geduscht.“

Er sah mich prüfend an. „Sie haben sich nicht rasiert.“

Ich warf die Hände in die Luft. „Ich sitze in einem verdammten Rollstuhl. Für mich ist alles zehnmal anstrengender als für andere. Ein bisschen mehr Mitleid bitte, waaaahhh!“

Kaum war mein üblicher Ausbruch vorbei, mussten wir beide lachten. Niemand wusste so gut wie Peter, dass ich nie im Leben zulassen würde, dass meine körperlichen Einschränkungen mich von etwas abhielten, was ich tun wollte. Im Gegenteil: Es lag eher in meinem Naturell, stur darauf zu beharren, etwas auf die harte Tour durchzuziehen, bloß um zu beweisen, dass ich es konnte. Das hatte ich nach jahrelangen Sitzungen mit Samar erkannt, und doch fiel es mir immer noch schwer, andere um Hilfe zu bitten – mit Ausnahme von Peter oder seiner Ehefrau Casey, die uns manchmal besuchte.

Während Peter sich wieder dem sauberen Geschirr zuwandte, das er einräumte, sagte er über seine Schulter hinweg. „Ich habe bereits eine Kühltasche mit Champagner und dem Hauseinweihungsgeschenk vorbereitet.“

„Ich habe ein Einweihungsgeschenk gekauft?“

Er nickte. „Sie haben ihnen einen Gutschein für ein Toilettenbidet gekauft.“

Ich starrte seinen Hinterkopf an. „Ich … was?“

„Das ist ein WC, das—“

„Stopp“, knurrte ich. „Ich weiß, was ein Bidet ist, und ich weiß auch verdammt gut, was man damit macht. Weshalb sollte ich—“

„Nur ein Scherz. Sie haben ihnen ein schönes, gerahmtes Foto von Goose Bay besorgt, weil sie sich dort besser kennengelernt haben. Die Aufnahme zeigt einen Sonnenuntergang über dem Wasser.“

Ich lächelte. „Verdammt aufmerksam von mir.“

Er wandte sich etwas zu mir um und grinste. „So sind Sie eben. Sie haben eine Gehaltserhöhung verdient.“

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine letzte Gehaltserhöhung erst drei Monate her ist.“

Er zuckte mit den Schultern. „Es ist nie zu früh, die nächste zu planen.“

„Selbstgefälliges Aas“, murmelte ich leise. „Vielen Dank. Sie sind der Beste. Aber das wussten Sie bereits, nicht wahr?“

„Ja.“ Er drehte sich um und half mir dabei, meine Sachen zu nehmen, bevor er mich zum Wagen brachte, den er mir gerufen hatte.

Als ich vor Teos und Jacks Haus eintraf, fiel mir auf, wie warm und einladend es von außen wirkte. Obwohl es ein wenig renovierungsbedürftig war, sah das Haus gepflegt und sauber aus. Rund um die Tür hingen Tannenzweige, die mit einer Lichterkette dekoriert waren. Auf der Türmatte stand: „Hier leben ein Pilot und ein Normalo.“ Das Innere des Hauses war gemütlich und bunt, weshalb ich mir ziemlich sicher war, eher Teos als Jacks Handschrift zu erkennen.

Doch ich fühlte mich sofort zuhause. Als ich bemerkte, dass sie sie Möbel so arrangiert hatten, dass es dazwischen genug Platz für meinen Rollstuhl gab, war ich ganz gerührt.

„Du kommst gerade richtig. Komm rein und mach was gegen den Punktegleichstand“, sagte Jack und griff nach meinem Mantel und meinem Hut. „Tee sagt …“

Den Rest seiner Worte hörte ich nicht, denn auf dem Sofa entdeckte ich einen Mann mit einer Katze auf dem Schoß, den ich von einer meiner Vorträge wiedererkannte. Es musste mindestens ein Jahr her sein, doch ich hatte ihn nicht vergessen, weil er so freundliche Augen hatte. Er war nach meiner Rede zu mir nach vorne gekommen, um sich zu bedanken und hatte mir erzählt, dass meine Worte großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Dank mir hätten er und andere LGBTQ-Teenager ein Vorbild gehabt, zu dem sie aufschauen konnten. Ich weiß noch, dass ich es heruntergespielt hatte, indem ich anmerkte, dass meine Geschichte eher ein abschreckendes Beispiel sein sollte, wie man nicht leben sollte. Doch ich wusste, was er meinte. Es war einer der Gründe, weshalb ich diese Reden hielt.

Als sein Blick durch den Raum schweifte und meinen traf, blieb ihm der Mund offenstehen. Zweifellos erkannte er mich wieder. Ich schenkte ihm ein zögerliches Lächeln und bewegte mich auf ihn zu. Er stand auf und trat einen Schritt näher, bis ihm mit einem Mal der Größenunterschied bewusst zu werden schien. Also stand er unbeholfen da, hin- und hergerissen zwischen Stehenbleiben und Hinsetzen. Letztendlich blieb er stehen und sah mich hilfesuchend an.

„Ich bin ein schrecklicher Dussel, schön, dass Sie hier sind.“ Er streckte mir die Hand entgegen. Als sein hübsches Gesicht vor Scham rot wurde, wurde mir flau im Magen.

Ich saß da und sah ihn schockiert an. Denn so plötzlich, wie der Blitz einschlägt, war mir klar geworden, dass dieser Mann und ich füreinander bestimmt waren.

Ty

Man stelle sich vor, man trifft die Berühmtheit, in die man seit Ewigkeiten verknallt ist, und vergisst dann seinen Namen. Oder Schlimmeres.

„Ich bin Ty Nosen, ein fester Freund von Jack.“ Scheiße. „Nein! Kein fester Freund von Jack. Haha! Ein Freund von Jack. Obwohl … also ich war mal sein fester Freund, aber das ist schon sehr lange her und war nicht wirklich eine große Sache.“

„Oh Mann, danke“, murmelte Jack, als er mir einen Drink in die Hand drückte. „Ich hab dich auch lieb, Kumpel.“

Ich ignorierte ihn und machte mich weiter zum Trottel. „So habe ich es nicht gemeint. Er hat Teo. Irgendwie muss ich bei ihm immer an Scott Baio denken, was mich nervt, weil er ein konservativer Spinner und ein total unangenehmer Zeitgenosse ist.“ Mir wurde plötzlich klar, dass ich nicht wusste, ob der Mann vor mir ebenfalls ein Konservativer war, und ich wollte ihn nicht beleidigen. „Nicht, dass daran irgendetwas verkehrt wäre.“

Er riss die Augen auf und lächelte. „Nicht?“

„Scheiße. Sie sind … Sie sind …“

Es entging mir nicht, dass er noch immer meine Hand hielt. „Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen.“

Seine Stimme war warm und tief, genau wie ich sie von seinen Reden und Podcasts in Erinnerung hatte. „Ja, bin ich.“

Oh Gott.

Seine Grübchen wurden sichtbar. „Du bist entzückend. Erinnerst du dich an meinen Namen?“

Pff. Natürlich. Als könnte ich den Mann vergessen, den ich in meiner Fantasie schon geheiratet hatte. Ich öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus.

Er lachte. „Wie stelle ich sicher, dass wir beide beim heutigen Quizabend nicht im selben Team landen?“

Er sah mich mit funkelnden Augen über den Rand seiner Brille hinweg an, während er mir das Glas aus der Hand nahm und einen Schluck von meinem Drink nahm.

„Rourke Wagner“, stammelte ich schließlich. „Der Rourke Wagner.“

Rourke spuckte vor lauter Lachen beinahe alles wieder aus. „Nenne mich Rourke. Ich nehme dich heute Abend mit zu mir nach Hause. Das ist dir klar, oder?“

Ich wusste nicht, ob das ein Scherz war oder nicht, nickte aber trotzdem. Falls nur die kleinste Chance bestand, dass er es ernst meinte, war es mir die Blamage wert. „Mh-mh.“

Er gab mir den Drink so zurück, dass unsere Hände sich auf dem Glas berührten. Rourke sah mir direkt in die Augen. „Gut.“

Als ich hochsah bemerkte ich, dass alle anderen im Raum schnell den Blick abwandten, also hatten sie alles mitverfolgt. Mein Gesicht glühte.

Durch den Rest des Quizabends schwebte ich auf Wolken. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich, als ich nach einem unbekannten Künstler gefragt wurde, Picasso antwortete. Und als man mich nach einem berühmten Arzt fragte, antwortete ich Dr. Pepper. Irgendwann wurde ich aus dem Team geworfen und zum Getränkemixen verdonnert. Es war okay. Ich genoss jede einzelne Sekunde davon, Rourke Wagner zu bedienen. Ein Teil von mir hatte sogar diese Fantasie, neben ihm auf dem Boden zu knien und meinen Kopf auf sein Bein zu legen, als wäre ich ein Golden Retriever. Ich hätte alles getan, um diesem Mann das Leben zu erleichtern.

Als Mitternacht näher rückte und Jack für den Countdown den Fernseher aufdrehte, begann ich zu schwitzen. Es störte mich nicht, alleine zu sein, wenn es Mitternacht schlug und das neue Jahr begann, doch es störte mich ganz gewaltig, im selben Raum wie Rourke zu sein, ohne ihm ein frohes Neues Jahr wünschen zu können. Und zwar mit meinen Lippen und meiner Zunge.

Als die letzten zehn Sekunden des Countdowns anbrachen, war er plötzlich verschwunden. Ich beschloss, mich abzulenken, indem ich die leeren Gläser und Teller in die Küche trug. An der Spüle angekommen, stützte ich die Hände auf die Theke und schloss fest die Augen. Bestimmt hatte er das Gerede, mich mit zu ihm zu nehmen, nicht ernst gemeint. Vielleicht war er bereits gegangen, weil auch er diesen peinlichen Moment des Jahreswechsels vermeiden wollte.

„Ich hoffe, du versteckst dich nicht vor mir“, hörte ich seine leise Stimme hinter mir.

Als ich mich umdrehte, war Rourke vor mir und in seinem Gesicht sah ich eine ungewohnte Mischung aus Unsicherheit und gespielter Tapferkeit. In meinem Bauch wütete ein ganzer Schwarm von Schmetterlingen. „Ich wollte vermeiden, zurückgewiesen zu werden“, gab ich ebenso leise zu.

Er streckte eine Hand aus, als plötzlich Jubel und Klatschen aus dem anderen Raum ertönte. Ich nahm seine Hand, trat näher und hockte mich dann hin, sodass wir auf gleicher Höhe waren.

„Komm mit zu mir. Bitte.“ Seine Augen sahen mich flehend an, obwohl sein Lächeln selbstsicher wirkte. Es war, als könnte ich einen Sprung in dieser Rüstung sehen, die er für die Öffentlichkeit angelegt hatte. Es ließ ihn authentischer wirken … weniger wie der perfekte Mann, der vor Tausenden Leuten über den Selbstmordversuch sprach, den er als schwuler Teenager unternommen hatte und der schrecklich gescheitert war, weshalb er nun lebenslang im Rollstuhl saß. Er war bekannt dafür, Witze darüber zu reißen, dass man ihn für das Verbrechen, ein junger Schwuler zu sein, der gemobbt wurde, zum elektrischen Stuhl verurteilt hatte. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kindern Alternativen zum Selbstmord aufzuzeigen.

Er war der mutigste Mensch, den ich kannte.

Wie hatte ich annehmen können, dass in diesem erfolgreichen Mann nicht auch noch der unsichere Junge von damals steckte?

„Ja“, sagte ich, um alle Zweifel aus dem Weg zu räumen. „Und wenn mein Wunsch für das neue Jahr wahr wird, dann werde ich nicht nur heute Abend mit zu dir kommen.“

Rourkes Augen weiteten sich vor Überraschung, doch sein Mund verzog sich zu einem glücklichen Grinsen. „Schwein gehabt. Und jetzt küss mich, du hinreißender Kerl.“

Und das tat ich. Und zwar sehr, sehr lange.